Die ganze Nacht über hat das Krampfen nicht aufgehört. Wenn man Viktoria bewegt, werden die Bewegungen am rechten Arm stärker und auch die Augenlider zucken, läßt man sie in Ruhe, werden die Bewegungen nach einiger Zeit wieder minimal. Als wir morgens zu ihr kommen, wird gerade ein weiteres MRT vorbereitet. Da der Krampf nicht aufgehört hat, möchte man sicher gehen, daß nicht die neuerliche Verlegung der Drainage dafür mit verantwortlich ist.
Der Befund ist schlechter als gestern. Das Hygrom ist zwar gut abgeflossen, die Mark-Rinden-Differenzierung in diesem Bereich ist jedoch wieder deutlich schlechter als zuvor. Man spricht nun in diesem Zusammenhang von einer Infiltration und nicht mehr von einem Ödem. Auf Nachfrage erklärt Dr. P., daß ein MRT zwar eine wunderbare Technik sei und der leitende Radiologe Dr. W. auch bereits Zigtausende von diesen Bildern gesehen habe. Dennoch sehen ein Ödem und eine Infiltration einfach gleich aus. Und in diesem Fall muß aufgrund der Grunderkrankung einfach von einer Infiltration von Makrophagen ausgegangen werden. Im übrigen sehen aufgrund von Sauerstoffunterversorgung abgestorbene Hirnregionen auf den Bildern genauso aus wie Infiltrationen und Ödeme. Aber die Tatsache, daß sich bereits auffällige Regionen relativ schnell wieder normalisiert haben, spricht dafür, daß in Viktorias Fall noch kein Gewebe nekrotisiert wurde. Wenigstens ein kleiner Lichtblick.
Aufgrund des Befunds haben die Ärzte entschieden, doch wieder Trapanal einzusetzen, um Gehirnschäden vorzubeugen. Sie wird also wieder ins Koma versetzt. Man möchte das Trapanal erst einmal bis Donnerstag weiter geben und sich dann entscheiden, wie weiter verfahren wird (Trapanal absetzen/Kontroll-MRT, etc). Unsere schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen.
Eigentlich haben wir erwartet, daß der Befund schlechter wird. Auch beim letzten mal, als sich die Situation so dramatisch verschlechtert hatte, hat es einige Tage gedauert, bis eine Besserung im Gehirn stattgefunden hat. Wir können nichts weiter tun als zu warten. Die nervliche Belastung hat mittlerweile unmenschliche Ausmaße angenommen. Wie sollen wir das noch verkraften?!
Gegen Abend kommt der Hämatologe Dr. B. vorbei. Er hat aber auch keine neuen Informationen für uns. Auch er erklärt uns nochmals, daß er und die anderen Ärzte das Methotrexat (MTX) nicht als den Auslöser der neuerlichen Verschlechterung sehen. Es sei zwar bekannt, daß MTX neurologische Schäden verursachen könne, diese würden sich im MRT-Bild aber anders darstellen (eher fleckig).
Ecke diskutiert noch mit ihm, wie man weitere Rückschläge vermeiden könne. Am Sonntag wurde wie jede Woche im Blut das Ferritin bestimmt. Dabei kam ein exorbitanter Wert heraus (Ferritin: 2360, normal 150). Bei der letzten Bestimmung vor ca. einer Woche lag dieser Wert noch bei 800, eine weitere Woche davor bei 700. Laut Dr. M. sollte dieser Wert nicht sprunghaft ansteigen. In Viktorias Fall tut er es aber dennoch schneller, als man das erwartet hat. Da der Ferritinwert auch auf die Aktivität der HLH zurückschließen läßt, hat dessen Erhöhung also bereits am Sonntag morgen den kommenden Krankheitsschub angedeutet. Dr. B. sieht das ähnlich. Wir werden da dran bleiben, daß von nun an engmaschigere Kontrollen dieser für die HLH bedeutsamen Werte durchgeführt werden.
Es stellt sich allerdings auch die Frage, was man tun kann, wenn sich ein neuer Schub andeutet. Man kann nicht beliebig hoch die Chemo-Medikamente dosieren, da man sonst auch Gefahr läuft, zu wenig Blutzellen zu produzieren. Das wiederum würde vermehrte Bluttransfusionen erfordern, die sich im Hinblick auf die noch bevorstehende Knochenmarktransplantation negativ auswirken. Das liegt daran, daß in einer Transfusion immer auch noch T-Zellen des Spenders vorhanden sind, man kann nicht restlos alle extrahieren. Und genau gegen die geht dann Viktorias Immunsystem vor und entwickelt quasi eine Immunität gegen gewisses Blut. Wir fragen uns aber, ob das wirklich schlimmer sein kann als das, was wir gerade erleben…