Zwei für uns immer noch besondere jährliche Ereignisse rückten durch Elaines Geburt etwas in den Hintergrund. Am 25. Juni jährte sich Viktorias Tod und bereits zwei Wochen darauf am 9. Juli war ihr Geburtstag. Wir haben Luftballons an ihr Grab gebracht und viel an sie gedacht. Und tatsächlich kam mir dieser Tag sehr traurig vor. Viktoria wäre nun drei Jahre alt geworden…
Stopp! Nein! Das wäre sie nicht! Sie wollte das doch gar nicht! Sicher, ich kann mir weiter vorstellen, wie denn alles gewesen wäre ohne ihre Krankheit. Ich kann mir weiter einreden, daß sie doch bei uns ein langes, glückliches Leben hätte haben können und ihr somit unterstellen, daß sie gar nicht gehen wollte. Doch das macht nicht nur keinen Sinn, weil es nicht so ist, nein, ihr ganzes Leben würde dadurch gering geschätzt und das hat sie wahrlich nicht verdient! Viktorias Erbe und ihre grandiose Hinterlassenschaft verdienen unsere volle Wertschätzung. Ich bewundere meine Tochter und ihren beschwerlichen, von ihr gewählten Lebensweg sehr. Sie wollte nie alt werden! Sie wollte nie laufen lernen! Nicht in diesem Leben. Sie wollte etwas viel wichtigeres tun, sie wollte uns zum Nachdenken bringen. Sie wollte, daß wir uns be-sinnen, zu unseren Sinnen zurückkehren und fühlen, was wirklich im Leben zählt und worum es hier eigentlich geht.
Ein Schlüsselelement ist die Erwartung. Erblicke ich ein kleines Mädchen in dem Alter, in dem Viktoria jetzt wäre, ertappe ich mich immer wieder dabei, mir vorzustellen, wie sie wohl gewesen wäre. Wie hätte sie sich bewegt? Wie gesprochen? Wie sähe sie wohl aus? Aber ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, ich schaffe es einfach nicht! Und daran merke ich auch, daß das völlig unpassend ist. Viktoria wird in meiner Vorstellung vermutlich immer zwei Jahre alt bleiben – und das macht überhaupt nichts!
Ich habe aus Viktorias Geschichte gelernt, daß ich meine Erwartungen loslassen muß – Erwartungen an meinen Job, eintretende Ereignisse, andere Autofahrer, vor allem aber Erwartungen anderen Menschen gegenüber. Ja, ich habe erwartet, daß Viktoria drei Jahre alt wird. Ich habe erwartet, daß sie eines Tages umherläuft und „Papa“ sagt und all diese Dinge. Ich möchte denselben Fehler (ich definiere mir hier selbst, was ich als „Fehler“ bezeichne) bei Elaine nicht noch einmal machen. Nicht um einer Enttäuschung vorzubeugen, die unweigerlich entsteht, wenn jemand die Erwartungen des anderen nicht erfüllt. Nein, es geht um Liebe. Nur wenn es mir gelingt, Elaine erwartungsfrei zu begegnen, kann sich wahre Liebe entfalten. Nur dann kann sie ihr volles Potential freisetzen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Seine Erwartungen jemandem gegenüber abzulegen bedeutet nicht, auf Distanz zu ihm zu gehen. Sicher, wenn ich mich von jemandem abkapsle, schaffe ich es vielleicht auch, keine Erwartungen ihm gegenüber zu hegen. Doch ist dieses Verhalten sicherlich nicht der Beziehung förderlich. Es entzieht ihr Liebe, und ich möchte keine lieblosen Beziehungen führen. Liebe hat nichts mit Erwartung zu tun. Im Gegenteil: Erwartung mindert die Freiheit, und Freiheit ist die Essenz der Liebe! Darum ist es mein Bestreben, jegliche Erwartung Elaine und auch anderen Menschen gegenüber aufzugeben. Keine leicht Aufgabe… 🙂
Und nun zu der großen Seele, die uns auf die wichtigen Dinge des Lebens aufmerksam gemacht hat. Alles Gute zum Geburtstag, liebe Viktoria! Wir vermissen Dich noch immer sehr, doch wissen wir auch, daß Du – obwohl wir Dich nicht sehen können – gar nicht weit weg bist. Auch unsere ganze Familie hat am Wochenende zusammengefunden, um an Dich zu denken. Das neue Memory-Spiel mit lauter Bildern von Dir kam echt gut an und ich wette, Du hast gesehen, wie viel Spaß alle daran hatten. Du wirst immer zu unserer Familie dazugehören – solange wir leben.