Viktoria ist fort. Die Gedanken schweifen um die kostbaren Momente mit ihr. Wie goldig es war, wenn sie seufzte. Wie es sich anfühlte, sie im Arm zu halten. Welche Freude es machte, sie zu füttern. Wie sehr die Sonne in unsere Herzen schien, wenn sie uns ein Lächeln schenkte. Welch tiefe Liebe wir empfanden, mit ihr zu kuscheln und ihr beim Einschlafen in unseren Armen zuzusehen.
Die erste Nacht ohne sie in der Wohnung war seltsam. Still. Leer. Traurig. Unsagbar traurig. Auch die folgenden Tage waren schwer und sie sind es immer noch. Es fehlt einfach etwas. Etwas, das vorher da war. Und nun nicht mehr.
Ich denke an die letzten Tage zurück, als Viktorias toter Körper bei uns im Wohnzimmer lag. Immer wenn ich zu ihr kam, um sie zu streicheln und ihr mit den Fingern durchs Haar zu fahren, war es anders als zuvor. Es stimmte nicht mehr. Mein Gefühl sagte mir: Sie ist nicht mehr da drin. Das ist nur noch eine leblose Hülle. Das was sie war, das was sie ausmachte, der Mensch, der wirklich uns geschenkt wurde – der ist nicht mehr in diesem langsam verwesenden Behältnis. Man mag daran glauben oder auch nicht, daß wir mehr sind, als nur ein paar mehr oder weniger zufällig miteinander kooperierende Zellen. Wenn man dieses Erlebnis macht – dem Körper eines Nahestehenden beim Zerfall zuzuschauen – dann erscheint es einem nicht mehr möglich, daß so ein Zellhaufen ohne eine steuernde Instanz funktionieren kann. Was ist denn jetzt an diesem Dings anders als vorher?! War der Körper zu sehr geschunden, so daß er nicht mehr korrekt funktionierte?! War die Lunge zu sehr verschleimt?! Das Gehirn zu geschädigt?! Was genau fehlt denn jetzt, daß er nicht mehr läuft?! Warum kann man nicht einfach ein Teil ersetzen und den Motor wieder starten?!
Als technisch versierter Mensch hat man ja ein gewisses Gespür für materielle Zusammenhänge. Man hat beispielsweise mit einer bestimmten Maschine zu tun und baut tatsächlich auch eine Art Beziehung zu ihr auf. Man „fühlt“ sich hinein, wie die Abläufe in ihrem inneren sind. Das Gespür verfeinert sich, je länger man sich mit ihr beschäftigt. Mit der Zeit versteht man immer besser, wie sie funktioniert. Wie Zahnräder ineinander greifen. Warum es manchmal hakt. Wie man mit ihr umgehen muß und wo ihre Schwachstellen sind. Wann etwas kaputt geht und wie man es reparieren kann. Das alles ist für technikaffine Menschen leicht nachzuvollziehen. So auch für mich.
Und dann sitze ich neben diesem verwesenden Zellhaufen von dem unsere Gesellschaft uns lehrt, es handle sich ebenfalls um eine Maschine. Eine hochkomplexe zweifellos, aber dennoch eine Maschine. Eine, bei der man mit nur ausreichend Forschungszeit verstehen würde, wie sie funktioniert. Eine, bei der auch Zahnräder (Zellen und Proteine) ineinandergreifen. Bei der es auch manchmal hakt (einige Zellen oder Proteine zu viel oder zu wenig). Bei der etwas kaputt gehen kann, und bei der man mit der richtigen Operation oder dem richtigen Medikament alles wieder reparieren kann. Wie bei einem Auto, das man in die Werkstatt bringt, wenn es irgendwo nicht rund läuft. Wenn ein Automotor einen Kolbenfresser kriegt, weiß ein erfahrener Mechaniker recht schnell, welche Teile er austauschen muß, um ihn wieder flott zu kriegen. So soll das auch bei einem Menschen funktionieren. Man geht zum Arzt und sagt: „Herr Doktor, mein Körper streikt.“ Und mit nur genügend Erfahrung tauscht dieser Teile aus (Operation) oder sorgt für mehr Öl (Medikamente), um den Körper wieder auf Vordermann zu bringen.
Dieses Bild von der nicht mehr funktionierenden Maschine stimmt für mich nun nicht mehr. Die Art und Weise wie Viktoria gestorben ist, widerspricht völlig meinem Gespür für technische Abläufe. Sicher, ich bin medizinischer Laie. Aber wenn man schon dieselben wissenschaftlichen Methoden in der Medizin anwendet wie in technischen Berufen, dann sollte doch auch mein Verständnis für materielle Abläufe und Zusammenhänge hier anwendbar sein. Aber das ist es nicht! Es fühlt sich völlig unpassend an! Wenn das wirklich nur eine Maschine war, die hier „den Geist aufgegeben“ hat, so wäre das auf andere Art und Weise passiert. Es wäre irgendwie so passiert, daß man erkennt, welches Teil zu ersetzen ist, welche Schraube man festdrehen muß, um dem entgegenzuwirken. Ich kann das schlecht in Worte fassen, das können selbst Technikprofis in Bezug auf Maschinen auch nicht. Aber es fühlt sich einfach falsch an! Gerade diese Unstimmigkeit macht es für mich unmöglich, dem Gedanken der Körper-Maschine weiter nachzuhängen.
Liebe Leser, laßt euch sagen, der Mensch ist viel mehr als die Summe seiner sichtbaren Teile. 100 Billionen Zellen (das ist eine Zahl mit 14 Nullen) sollen einfach so zusammenarbeiten?! Wunderbare Gefühle, die wir tagtäglich hervorbringen – nur eine Folge unserer Hormonproduktion?! Unsere grenzenlose Fantasie – zufällig entstandene Verbindungen in den Neuronen des Gehirns?!
Es ist seltsam. Noch vor einem Jahr hätte ich hier überall ja gesagt. Man findet stets eine Erklärung, die dem gegenwärtigen Weltbild entspricht und es bestätigt. Von Zeit zu Zeit aber geschehen Dinge im Leben eines Menschen, die seine Welt aus den Angeln heben. Als Viktoria erkrankte, war für mich ein solcher Zeitpunkt. Die verstandesmäßige, logische Erklärung seitens der Schulmedizin war da. Sie paßte in das alte Weltbild. Und doch war für mich keine emotionale Stimmigkeit mehr da. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen – die Weltanschauung trug mich nicht mehr.
Es ist dem „Zufall“ zu verdanken, daß Dinge in mein Leben traten, die einen Erkenntnisprozeß bei mir anstießen. Zunächst getragen von der Hoffnung, Viktoria würde wieder gesund und munter werden, wurden daraus bald Gedanken über den Sinn des Lebens, den Zweck unseres Daseins. Die Richtung, die ich einschlug, versprach auf einmal mehr, als „nur die Heilung meiner Tochter“. Ich habe diesen Satz im Laufe der letzten Monate mehrfach gesagt, und er stimmt für mich bis heute. Hallo?! Lest mal genau hin! Diesen Satz muß man sich auf der Zunge zergehen lassen! Ich wünschte mir doch nichts sehnlicher, als die Genesung meiner kleinen Viktoria. Alles andere in meinem Leben verschwand in völliger Bedeutungslosigkeit. Es war so unendlich schmerzhaft, sie so sterbenskrank daliegen zu sehen. Ich hätte alles gegeben, um sie gesund zu machen. WIRKLICH ALLES! Und dann kommt etwas in mein Leben, das noch wichtiger und einfach nur grandios ist?! Gibt’s ja gar nicht…
Heute erscheint es mir, als wäre ich blind gewesen! Es war alles schon vorher da, nur habe ich es nicht gesehen. Selektive Wahrnehmung. 🙂 Man sieht es – und doch sieht man es nicht. Stur seinen alten Mustern zu folgen, bringt einen nicht weiter. Es geschehen genau dann wunderbare Dinge im Leben, wenn man bereit ist, sich zu öffnen, um etwas Neues zuzulassen. Meistens brauchen wir dazu einen Tritt in den Hintern, um uns von selbigem zu erheben. Nun, ein etwas weniger schmerzhafter Tritt wäre mir sicherlich lieber gewesen. Aber ich denke, ich habe genau das gebraucht. Ein weniger einschneidendes Erlebnis hätte mich vielleicht nicht diesen Weg finden lassen, von dem ich nicht mehr umkehren mag. Ich kann nicht in Worte fassen, wieviel Dank ich für Viktoria empfinde. Ihr verdanke ich, daß die Welt um mich herum nun bunt ist – es kommt mir so vor, als war sie zuvor schwarz-weiß.
Rückblickend wird mir nun auch klar, daß Viktoria von Anfang an nur ein kleines Gastspiel geplant hatte (oder Gott für sie, je nachdem, woran man glaubt). Sie wollte nur kurz Hallo sagen, um dann bald wieder zu enteilen. Doch allzuschnell konnte sie das nicht. Sie fühlte, daß wir es nicht verkraftet hätten, wäre sie gleich bei Ausbruch ihrer Krankheit gegangen. Unsere Liebe für sie war riesig und sie ist es noch. Doch wie viele andere unerfahrene Eltern auch verwechselten wir Liebe mit Umklammerung. Wir hatten zu viele Erwartungen. Zu viele eigennützige Wünsche. Wir hätten so gerne gesehen, wie sie aufwächst – hätten so gerne erlebt, wie sie zur bildhübschen Frau heranreift – hätten so gerne mit ihr gesprochen – hätten so gerne an ihrem Leben teilgenommen. Sie spürte dies – und konnte nicht gehen. Noch nicht. Sie gab uns Zeit, mit dieser Situation zurecht zu kommen. Zeit, sie loszulassen. Denn das, was wir uns für sie und mit ihr vorstellten, entsprach nicht ihren Wünschen.
Selbst, als meine Sichtweise sich zu ändern begann, ließ ich Viktoria nicht wirklich los. Ich machte mir etwas vor. Ich schob die Möglichkeit ihres Todes immer so weit wie möglich von mir weg. Positives Denken! Der Gedanke ist Urheber der Tat! Das stimmt. Doch letztlich liegt es nicht in unserer Macht, für andere zu entscheiden. Indem ich es ignorierte, daß Viktoria sterben könnte, nahm ich ihr die Möglichkeit auf Selbstverwirklichung. Ich blockierte ihren Weg, setzte mich über ihren Wunsch hinweg, ja ich zwang ihr meinen Willen auf.
Durch die schwere Zeit war es Ute und mir möglich, gaaanz langsam den Gedanken von Viktorias Tod zuzulassen. Stück für Stück näherten wir uns seinem vermeintlich häßlichen Angesicht – jeder auf seine eigene Art und Weise. Ich für meinen Teil kann sagen, daß der Tod seinen Schrecken ganz und gar verloren hat. Er ist nur häßlich und schrecklich, solange wir uns von ihm abwenden. Haben wir den Mut ihn anzuschauen, bemerken wir, daß er ganz und gar nicht böse ist. Und er gehört einfach zu unserem Leben hier auf dieser Welt dazu.
Viktoria wartete geduldig, bis wir in der Lage waren, ihren Verlust zu verschmerzen. Sie erspürte den perfekten Zeitpunkt und beschloß dann, daß es Zeit war, zu gehen. Daher ist ihr Verlust zwar traurig und schmerzlich, nicht aber schrecklich oder traumatisch. Auch die Art und Weise, wie sie gegangen ist, paßt ins Bild. Es war kein Krankheitsschub, kein Krampfanfall, kein Todeskampf. Sie hörte einfach auf zu atmen. Sie ließ los. Es war keine Resignation, kein ich-mag-nicht-mehr. Es war ein endlich-kann-ich. Sie wollte einfach gehen. Das war ihr Ziel – und das konnte sie erst erreichen, nachdem wir sie loslassen konnten.
Viktoria hat ein großes Loch in das Dasein ihrer Eltern gerissen. Es läßt sich nicht mit Worten ausdrücken, wie sehr wir sie vermissen – wie sehr wir uns danach sehnen, sie im Arm zu halten, sie zu füttern, für sie da zu sein. Man bemitleidet sich selbst, alles ist schwer und müßig. Man sucht morgens oft nach einem Grund, aufzustehen. Die Leere, die im Leben entstanden ist, versucht man mit anderen Dingen aufzufüllen. Doch was man auch tut, alles erscheint so unbedeutend und nebensächlich. Man ist quasi auf der Suche nach einem Alltag, den man nicht mehr haben wollte. Ein kinderloser Alltag. Wie texteten die Fantastischen Vier noch so passend: „Davor war’s schöner allein zu sein.“ Wie wahr.
Aber trotz all dieser Melancholie: Da ist auch Zuversicht. Wir haben gerade erst an die Pforte des Lebens geklopft. Wir stehen mittendrin und haben noch alle Möglichkeiten, unser Glück zu finden. Durch die Hölle sind wir bereits gegangen. Jetzt wäre es doch an der Zeit für etwas Glück?! Wir wünschten uns natürlich, wir hätten Viktoria in dieses Glück mitgenommen. Aber egal was noch kommt, sie wird dennoch immer Teil unseres Glücks sein. Ein großer Teil. Wir werden die Erinnerung an sie lebendig halten. Oft lachen wir gemeinsam beim Betrachten alter Bilder und Videos unseres kleinen Engels. Sie war für uns der goldigste Schatz auf Erden – und sie wird es immer sein.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Menschen bedanken, die durch Viktoria in mein Leben getreten sind und es enorm bereichert haben. Ich konnte viele tolle Gespräche führen, viele neue Gedanken und Sichtweisen entwickeln. Herzlichen Dank an alle, die sich Zeit für mich nahmen. Danke auch an meine Frau Ute. Viktorias Mama hat ihrer Tochter die Liebe geschenkt, die sie für ihr kurzes und intensives Leben brauchte. Und sie hat eine ganz eigene Sicht auf die Dinge. Gut so! Denn ihre Sichtweise ist genauso richtig wie die meine. Das Zulassen ihrer Betrachtungsweise, sowohl gedanklich als auch emotional, war und ist ganz wichtig für meinen Prozeß. Ablehnung führt nicht zum Ziel. Das habe ich nun verstanden.
Danken möchte ich auch den Menschen, die Viktoria ein Stück ihres Lebens begleitet haben, ihr durch die schwere Zeit halfen und ihr beistanden, darunter allen Therapeuten, Ärzten und Krankenschwestern. Ein besonderer Dank geht an meine Familie, die immer für uns da war. Insbesondere Viktorias Omas haben uns während der schwierigen Zeit immer zur Seite gestanden, und auch unser Schwager kam oftmals zum Babysitten. Danke auch an meinen Cousin, der mich während der Akutphase oft bei sich hat nächtigen lassen.
Danke an alle, die unsere Geschichte verfolgt haben und uns aufmunternde Worte und Gedanken schickten und noch immer schicken. Auch ihr habt ganz wesentlich zum Verlauf der Dinge beigetragen, und ihr helft uns weiterhin, dieses Erlebnis verkraften zu können. Ich werde immer mal wieder etwas hier im Blog veröffentlichen, was mit Viktoria zusammenhängt. Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Mein letzter Dank geht natürlich an meine Tochter Viktoria selbst. Diese Wahnsinns-Seele hat einen anderen Menschen aus mir gemacht – einen besseren, wie ich finde. Sie öffnete mir die Augen für eine völlig neue Welt. Eine Welt, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ersonnen hätte. Ich habe mehr Lebensmut denn je! Das Leben ist großartig! Ich habe richtig Lust darauf! Viktoria, wir werden uns wiedersehen! Das fühle ich genau! Aber jetzt noch nicht! Ich werde dich niemals vergessen, du hast einen festen Platz in meinem Herzen! Danke fürs vorbeischauen!